Ralf Pfennig



VERABREDUNG UM MITTERNACHT

Auf der Turmuhr ist es kurz vor Zwölf. Zwischen den dunklen schnell dahin ziehenden Wolken sind ein paar Sterne zu sehen.

Ein Mann geht durch die leeren Straßen, öffnet langsam die Tür. Dennoch knarrt und quietscht sie. Nahezu kraftlos tritt er in die Hafen Bar ein und stellt sich an die Theke, legt einen Aktenkoffer auf einen der Barhocker ab. Die Lampe hängt tief, wirft ein hartes Licht auf sein ausgemergeltes Gesicht. Seine klaren, fast stechenden Augen fallen selbst im Schatten der Hutkrempe auf. Der zweireihige Anzug ist von guter Qualität, aber nicht modisch zu nennen. Zudem ist er mindestens zwei Nummern zu groß. Der offene Trenchcoat hängt ihm von den Schultern herab.

Der Barmann wendet sich zu seinem neuen Gast, weicht aber einen halben Schritt zurück.

„Entschuldigung, ich stinke. Es ist der Atem des Todes. Geben Sie mir einen Schnaps. Etwas, was gut und stark riecht. Vielleicht einen Fernet. Oder was Sie meinen. Ist mir schon recht.“

„Wenn der Geruch vom Magen her kommt, sollten Sie vielleicht was essen.“

„Mein Magen verträgt schon seit Wochen nichts mehr.“

„Ob ein Schnaps dann . . .“

„Der ist nicht für den Magen, der ist für mich.“

So stellt ihm der Barmann ein kleines Glas mit einer tiefbraunen Flüssigkeit auf die Theke. Der Mann führt das Glas langsam an seine Lippen, stürzt es dann mit einem Zug hinab, verzieht das Gesicht, als hätte ihm jemand ein Messer in den Bauch gerammt.

„Noch einen.“

Wortlos schenkt der Barmann ihm nach.

„Mein Name ist Grau. Falls nach mir gefragt wird. Ich bin der Nebel und der, der ihn durchdringt. Ach, das war einmal.“

Wieder führt er das Glas langsam an seine Lippen. Diesmal verharrt er einen Augenblick, schnuppert erst und kippt dann den dunklen Schnaps hinunter.

„Sie reden wohl nicht viel. Ich habe auch nie viel geredet. Dabei wollte ich reden, wollte erzählen von meinen Erlebnissen. Aber ich musste schweigen. Ist mir wohl über die Jahre auf den Magen geschlagen.“

Er dreht sich um, sieht in den Raum. Einige Tische scheinen besetzt zu sein. Aber so genau kann er es bei dieser spärlichen Beleuchtung nicht erkennen.

„Ich bin hier verabredet.“

Der Barmann putzt währenddessen ein paar Gläser mit ruhiger Hand. Grau wendet sich wieder ihm zu.

„Sie sind neu hier. Früher hat jemand anderes dort gestanden, wo sie jetzt stehen.“

„Sie kennen die Bar schon lange?“

„Hier hat sich nicht viel verändert. Ist gut so. Manchmal braucht man feste Koordinaten im Leben. Ja, war schon immer recht dunkel hier. So wie ich es damals brauchte.“

Ein Mann tritt aus dem dunklen Teil der Bar an Grau heran. Er trägt ebenfalls einen Hut, hat ihn aber noch tiefer ins Gesicht gezogen. Seine Kleidung ähnelt der von Grau. Nur ist sie etwas moderner geschnitten und sitzt tadellos.

„Sie haben da etwas“, er deutet auf den Aktenkoffer, „was Ihnen nicht gehört.“

„Bitte, bedienen Sie sich.“

Grau nimmt sehr langsam ein paar Geldscheine aus seiner Manteltasche und legt sie neben das leere Schnapsglas.

„Für ihre Unannehmlichkeiten“, sagt er zum Mann mit der dunklen Brille hinter der Theke.

„Ist auch alles im Koffer?“ will der andere Mann wissen.

„Selbstverständlich!“ Grau öffnet kurz den Koffer.

„Es gibt auch keine Kopien?“

„Natürlich nicht.“

„Das sagen Sie.“

„Vertrauen Sie mir. Wir waren bei der gleichen Firma. Wenn wir uns nicht einmal trauen würden. Wo kämen wir da hin?“

„Sie wissen, was Erpressern zustoßen kann.“

Der unbekannte Mann nimmt den Koffer.

„Und nun tun Sie, was getan werden muss. Aber machen Sie es richtig. Verlieren Sie keine unnötigen Worte.“

Der Mann antwortet nicht, wendet sich nur ab zum Gehen.

Grau dreht ihm den Rücken zu. Dabei schaut er hinter die Theke, wo ein Spiegel hängt. Er ist wegen den vielen Flaschen kaum zu sehen. Aber eine kleine Ecke genügt Grau. Darin kann er den Mann sehen, der unter seinen Mantel greift und mit einer schnellen Bewegung seine Hand hervorschnellen lässt und diese auf Grau richtet.

Grau spürt noch das kalte Metall an seinem Genick. Er weiß, dass es eine Makarov mit Schalldämpfer ist. Seine Dienstwaffe hatte einen Sprung in der Griffschale und einen Kratzer auf dem Lauf. Er musste sie nie benutzen. Und darauf war er immer ein wenig stolz. Kurz bevor er seinen Dienst aufgeben musste, meldete er sie als vermisst. Dies taten damals viele. Früher hätten sie einem dafür den Kopf abgerissen. Aber die Zeiten hatten sich ja geändert.

Das leise Plopp hört er schon nicht mehr. Sein Kopf fällt nach vorn auf die Theke. Ganz langsam sickert Blut aus einer kleinen Wunde im Genick, während der unbekannte Mann mit dem Aktenkoffer von Grau schnell die Hafen Bar verlässt.