FREIHAFEN 20/09/2004

„Lügengeschichten“



Nach dem Ende der Sommerpause ging es mit neuem Wind weiter. Die Moderation des FREIHAFENs hatten Daniel Kirmse und Marcel Schock übernommen. Es war noch warm, aber der Winter, mit seinem Zwischenplateau Herbst, machte sich schon bemerkbar.

Das Thema des FREIHAFENs im September war >Lügengeschichten<. Eine weitere Innovation des Textforums wird die fortlaufende Geschichte der >Hafenbar< sein. Sie soll am Ende jeden FREIHAFENs in weiteren Folgen ihre offene Entwicklung haben. Sjoerd Ennel hatte an diesem Abend den Anfang gemacht, während Maike Stein eine kleine Kostprobe davon gab, wie es im Oktober damit weitergehen wird. Wer in der Hafenbar mitschreiben möchte, kann die Konditionen der fortlaufenden Geschichte auf der FREIHAFEN-Webside einsehen (zur Hafenbar).


Die erste Autorin war Brigitte die ihren Text DER GOLDESEL vorstellte.


Es folgte Ralf mit seiner bissigen Satire WENN DER RENTENBERATER ZWEIMAL KLINGELT.

„Guten Tag. Ich bin Ihr Rentenberater!“

Nicht schon wieder ein Versicherungsheini!

„Haben Sie etwas Zeit für mich?“

Jeden Tag belästigen sie mich.

„Ich komme von der Bundesversicherungsanstalt.“

Er scheint meine Gedanken lesen zu können.

„In wenigen Monaten dürfen sie Ihren wohlverdienten Ruhestand antreten.“

Seine Worte sind für meinen Geschmack zu geschwollen.

„Darf ich eintreten?“

Ich lasse ihn hinein in meine kleine Wohnung. Der Mann schaut sich auffällig intensiv um, betrachtet die Fotos an den Wänden, liest die Titel der Bücher im Regal.

Ich frage ihn lieber nicht, ob er einen Tee haben möchte. Er würde sich bestimmt erfreut zeigen, es sich bei mir so richtig bequem machen.

Ich mag ihn nicht besonders!



Darauf erschien unser Stammgast Ilya Hübner mit zwei skurrilen Geschichten ALLTÄGLICHKEIT und LEBERWURST OHNE PELLE(Ausschnitt). Es ist immer interessant was er wieder Sprödes ausgeheckt hat. Zuerst der Beginn von ALLTÄGLICHKEITEN:

Der Frühling nahte und James, ein geschickter Mann von achtundzwanzig Jahren, stand in seinem Garten und urinierte in einen verdorrten Strauch. Auf einmal vernahm er Rufe: „James, James, wo bist du ? Das Mittagessen ist fertig !“ Das war seine Frau Mathilda, ein blondgelocktes Wesen, das nicht mehr ganz jung erschien und dem in frühester Kindheit eine Sternenorakeldame geweissagt hatte, daß Mathilda fünf Kinder gebären würde. James trottete ins Haus und setzte sich an den Tisch. Mathilda kam aus der Küche und servierte dick bestrichene Marmeladenbrote. James sagte: „Oh, Mathilda, mir schmeckt es heute sehr ordentlich.“ Mathilda erwiderte: „Das ist recht, James, ganz recht. Ich habe die dick bestrichenen Marmeladenbrote auch mit viel Liebe zubereitet.“ Sie knutschten sich. Da ging die Schranktür auf und heraus kamen Bernhard, Fred und Karla, drei der achtzehn Kinder, die Mathilda von James gemacht bekommen hatte.

Und ein Ausschnitt aus LEBERWURST OHNE PELLE:

Ich kramte in meiner Hosentasche, zog einen Chip heraus und näherte mich den Einkaufswagen. Ich brauchte einen. Mit dem wollte ich zwischen den Regalen hin- und herfegen. Ich war erregt. Ein glatter Fünfhunderter klemmte in meiner Gesäßtasche. Ich wollte einkaufen, bis mir die Hutschnur hochgeht, und Geld zum Supermarktfenster rauswerfen!! Vor meinem geistigen Auge sah ich den Einkaufswagen bereits bis oben hin vollgestopft: Marmelade, Zahnpasta, abgepackter Käse, Zeitschriften, Colaflaschen und so weiter. In meiner Hemdtasche steckte ein Zettel, auf den ich geschrieben hatte, was ich benötigte. Was ich nicht benötigte, hatte ich auch raufgeschrieben. Nur so, zur Sicherheit. Und mit meinem großen Geldschein in der Gesäßtasche hätte ich locker noch einen zweiten Zettel voll schreiben können. Oder einen dritten. Mit ‘nem vierten wär’s schwierig geworden. Aber keine Panik. Im Eingangsbereich befand sich ein Geldautomat, und ich gehe nie ohne Karte außer Haus. Das hab ich früher getan, als ich Jugendlicher war. Aber in meinem Alter, wo die Haare langsam ausgehen, das Sehvermögen erheblich nachlässt und der Traum der Jugend sich erbarmungslos in Luft aufgelöst hat, läuft nichts mehr ohne Karte. Egal wie viel Scheine man bei sich trägt, und egal wie groß oder wie klein die Scheine sind.



Danach tauchte ein neues Gesicht in unserem Kreise auf, Gernot Recke, der seine Geschichten in kleinen Büchlein drucken läßt und uns daraus die Geschichte DER TAG AN DEM ICH GEORGE BUSH IM BUS TRAF präsentierte.


Es folgte die Pause und ein reges Sichaustauschen.


Anschliessend ging es mit einem Text von Michael weiter, der sich ZEUS HILF nannte. Er beschäftigte sich darin mit Mythologien im Bundesland Meckelburg-Vorpommern:

Sie steht erstarrt von lähmenden Entsetzen, vor ihren Augen war dieser Mensch soeben urplötzlich in die Tiefe versunken. Gerade noch hatte er die Flöte von den Lippen abgesetzt, sehnsuchtsvoll die Arme im stark spannenden Jackett nach ihr ausgestreckt, auf dem Gesichte eine schmachtende Grimasse, hatte mit spielerischer Leichtigkeit den Zaun überklettert, war vollkommen wirklichkeitsvergessen auf sie zugeschritten. Bevor sie noch begreifen konnte, was er vorhatte, war er ohne Schrei oder Laut urplötzlich in der Tiefe verschwunden, sie vermeinte sogar noch einen letzten, flehentlichen Blick aufgefangen zu haben. War das Wirklichkeit oder böser Spuk?


Es folgte Martin Doll mit der Taxigeschichte DER VERTRAG. Eine Fahrt außerhalb der Stadt, die immer skurrilere Phasen durchläuft.

...Es dauerte eine ganze Weile, bis er mich nach Fahrtantritt zum ersten Mal ansprach.

>> Bist du Student? <<

>> Nein, habe aufgehört, fahre jetzt nur noch Taxe.<<

>> Kann man davon Leben? <<

>> Millionär werde ich mit dem Job nicht. <<

>> Willst du den Job machen bis du in Rente gehst? <<

>> Darüber mache ich mir jetzt noch keine Gedanken. ( Was nicht stimmte.) <<

>> Ich hätte einen Job für dich, du machst einen vernünftigen Eindruck. <<

>> Was denn? <<, fragte ich mit gespielter Neugier.

>> Ich suche einen Kollegen. Einen Killer. <<

>> Danke, für das Angebot, aber wenn Sie einen Fahrer für einen Banküberfall brauchen, dann bin ich dabei. Ich glaube, da liegt eher meine Stärke. <<

Ich versuchte auf die Humorvolle, die knisternde Spannung zwischen uns abzubauen, was aber kläglich scheiterte. In einer entlegenen Waldsiedlung, von der ich selbst nicht wusste, dass sie überhaupt existierte, bat er mich an zu halten. Er sagte:

>> Ok, wenn du nicht willst, dann bringen wir es hier hinter uns, << und er zog aus der Mantelinnentasche eine Pistole, die er anschließend gegen mich, auf meinen Kopf zielend, richtete.

Vielleicht war sie echt, vielleicht auch nicht. Dies herauszufinden, war in dieser Situation nicht meine Absicht.

>> Wenn sie mein Geld wollen, hier, das können sie haben, << entgegnete ich überraschend ruhig und wollte ihm meinen Geldbeutel reichen, worauf er schroff antwortete:

>> Keine Bewegung! - Ich möchte nicht dein Geld, ich will nur dein Leben. <<

>> Wie mein Leben? << fragte ich verständnislos...



Dann überraschte uns Cindy mit einem Spontangedicht, das ihr während des ersten Teiles in den Sinn gekommen war. Es ging um ein Samenkorn, das aufging, und die einfache Schönheit.


Sylvia Eulitz las uns anschliessend aus ihrer LEBENSLÜGE vor, in der ein alter Mann auf einer Parkbank sitzt und über sein Leben sinniert. Ein Auszug:

“Tut mir nicht weh“, flüsterte er kraftlos, blind vor Hass und Schwäche. Er fühlte sich gepackt, hochgezogen und in eine andere Zeit gestoßen, die ihm unbarmherzig eine Wirklichkeit vor Augen führte, die er längst zu vergessen geglaubt hatte. Schreie brandeten an sein Ohr, seine Augen öffneten sich weit im stummen Entsetzen, welches aus seinem Inneren aufstieg. Hilflos stolperte er zwischen den grauen Männern an Häuserruinen und engen Straßen vorbei, die gesäumt waren mit kranken, ausgehungerten Menschen, Frauen und Kindern mit verschlossenen Gesichtern, die schon früh begreifen mussten, was um sie herum passierte, verstehen mussten, dass ihre Welt für immer zusammengebrochen war. Er presste die Hände vor sein Gesicht, um diese Hoffnungslosigkeit nicht mehr zu sehen, den verwesenden Geruch von Tod, Hunger und Krankheit nicht mehr riechen zu müssen. Bitterkeit erfüllte sein ganzes Sein und in ihm zerriß etwas, als die eisernen kalten Hände ihn immer schneller unbarmherzig durch das verpestete Ghetto zerrten und anklagend dessen zum Tode verurteilten eingesperrten Bewohner zeigten.

War er nicht ebenfalls ein stummer, unbeteiligter Schuldiger dadurch gewesen, weil er nichts von der grauenvollen Wirklichkeit, dem Elend und der schreienden Klage wahrhaben wollte? Sein einziges Leben damals war eine Lüge gewesen. Eine Lebenslüge, teuer, zu teuer bezahlt mit dem Preis des Untergangs. Seines Untergangs. Denn sein Leben hatte sich verändert und war nie wieder dasselbe gewesen.


Im Anschluss dann Sjoerd Ennel mit dem ersten Hafenbarteil VOM HUNGER GETRIEBEN. Ein kleiner Text über zwei Frauen die sich in jener Hafenbar treffen und dort diesen seltsamen Kellner begutachten, der auch nachts eine Sonnenbrille trägt. Es geht darin um die altbewährte analoge und die hybride digitale Kontaktaufnahme zwischen den Menschen:

Finde die Liebe Deines Lebens www.partner.de Die Online-Partneragentur" stand in großen roten Buchstaben auf einem Plakat. Neben der Schrift war ein sich zum Küssen aufgestelltes Mann-Frau-Paar dargestellt. Auri war in tiefen Gedanken versunken. "Was könnte mit einer solchen brav aussehenden Frau geschehen, wenn sie Mundgeruch hat?", überlegte sie sich. Sie hätte fast Monas Rufe überhört, wäre da nicht ein Radfahrer zwischen ihr und dem Plakat gefahren, der sie ablenkte. Mona lief winkend auf sie zu. "Hi Auri. Was schaust du da so verträumt? Ach die Glückmache-Agentur, vergiss es. Von einer Auri will keiner unter 70 etwas wissen", bemerkte sie, als ihr Blick die Straße überquerte. "Hey, alte Hexe, wenn ich dich fange, verbrenne ich dich!" Auri griff mit beiden Händen in die Hüfte ihrer alten Schulfreundin, die sich kreischend davon machte. "Wo gehen wir heute hin?" rief Auri ihr hinterher. Heute war ihr beider Handyfreier Käffchen-Plaudern-Tag. "Ich bin für die Enddorn-Kantine!" kam von einigen Metern weiter vorne, wo Mona angehalten hatte. Dieser Vorschlag wurde eher zurückhaltend wahrgenommen."Ich weiß schon. Du willst wieder diesen Kellner sehen, von dem du letztes Mal so geschwärmt hast. Ich konnte aber bis jetzt keinen erkennen. Keinen reizenden auf jeden Fall." Auri grinste von der Seite zu ihrer Freundin, die sich jedoch nicht so leicht aus dem Feld schlagen ließ."Geschmacksache, Schatz. Nicht jedes unartige Mädel steht auf Frauen." Ihr Gelächter blieb ihr im Hals stecken. Fast wäre sie über eine Katze gestolpert, die wie angestochen an ihr vorbei in eine enge Gasse schoss. Aus ihrer Überraschung wurde Neugierde. "Wo rennt denn diese Katze hin? Hast du das gesehen? Hier ist eine Gasse. Kennst du die?"

Auri hatte sich von hinten genähert und lehnte mit ihrem Kinn auf Monas Schulter. "Die sehe ich hier zum ersten Mal. Als ob die übernacht schnell angelegt wurde. Schau mal da, in der Mitte, ist das eine Terrasse?" Ohne sich weiter große Gedanken zu machen, schritten beide auf die aufgestellten Tische zu.

Von einer echten Terrasse war eigentlich wenig die Rede. Der Inhaber schien sich einfach ein Stück des Fußgängerweges angeeignet zu haben. Ein paar runde Tische mit etlichen Stühlen standen hier und da. Das Cafe selber lag ziemlich versteckt hinter einer unauffälligen Tür, die in verblichenen Farben den Namen "Hafen Bar" trug.


zum vollständigen Text, erste Episode Hafenbar

Von dieser seltsamen Bar berichtet gleich im Anschluss dann Maike Stein in einem leider nur kleinen Ausschnitt URSUPPE weiteres. Ganz wird dieser Text beim nächsten Treffen am 18102004 im FREIHAFEN mit dem Themenbereich >Kostbarkeiten< zu hören sein.

Anschließend trafen die meisten von uns im Gastraum des MEPHISTOs zusammen, um dort noch das Unterschiedlichste austauschen. Eindrücke, Ideen, Fragen, Adressen, Wettbewerbe, Möglichkeiten. Ein etwas anderer Abend... mit viel Input, aber auch der Möglichkeit des sich Mischens. Wie angenehm, erfüllend und nicht selbstverständlich in dieser hektischen Stadt B, die einem doch auch so einmachen und auf den Geist gehen kann.



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