*zeitlos*


letzter Blick in den Spiegel

das dunkle Kleid steht ihr gut

vielleicht ein wenig zu weit

früher war sie kräftiger

sie zieht die Lippen nach

zu dunkel, zu grell das Rot

für die Durchsichtigkeit ihrer Haut

ihr gelingt ein Lächeln

und sie friert es ein

als Trost war es gedacht

dieses: sie sind noch nicht zu alt

als hätte alt sein

etwas mit dem Alter zu tun

Erde knirscht unter ihren Schuhen

die Herbstzeitlosen

einziger Schmuck auf dem weißen Holz

eine Hand zu den Augen

es beginnt zu tauen

stark sein, denkt sie

Erde knirscht

für wen, denkt sie

ihr Kind kann es nicht mehr sehen





Maria und Maike

Einmal im Jahr, immer am 12.Juni, und immer dann, wenn Tag und Nacht Schichtwechsel haben, kriecht Maria aus ihrem Schneckenhaus. Sie löst den festen Knoten aus ihrem Haar, schiebt eine der kupferroten Locken verwegen ins Gesicht und schlüpft in das hautenge, ihre Figur betonende, kleine Schwarze. Am Spiegel begutachtet sie ihr dezentes und trotzdem aufreizendes Make-up. Sie will, sie wird auffallen. Sie ist ein Köder.

Sie wirft noch einen Blick auf das Bild ihrer Schwester neben dem Spiegel und lässt die Tür mit leichtem Schwung ins Schloss fallen. Im Treppenhaus vergewissert sie sich noch einmal, dass ihrer Tasche alles Notwendige enthält und sie niemand beim Verlassen des Hauses beobachtet hat. Zufrieden taucht sie ein in die Verschwiegenheit der Nacht.

Am Tage ist Maria eine von vielen fleißigen Mädchen in einem Großbüro. Den ganzen Tag löst sie die Augen kaum vom Computerbildschirm. Ihre Pause verbringt sie am Arbeitsplatz, und nach Feierabend eilt sie auf dem kürzesten Weg nach Hause. Das Haar trägt sie mit einem Mittelscheitel, hinten zu einem züchtigen Knoten gedreht. Ihr ungeschminktes Gesicht, mit dem stets traurigen Zug um die Mundwinkel und den trüben Augen, lässt sie älter erscheinen. Sie trägt immer Braun oder Mausgrau. Noch nie hat ihr ein junger Bursche hinterher gepfiffen. Sie ist schweigsam, verschlossen und nicht an dem üblichen Bürotratsch interessiert. Niemand weiß mehr, wie lange sie schon dort arbeitet. Obwohl sie flink und fehlerlos schreibt, nimmt man keine Notiz von ihr. Die Anderen haben sich an die Außenseiterin gewöhnt, sie ist mehr Inventar als Mensch.

Maria empfindet ihre Randstellung als wohltuend. Sie braucht keine Kontakte, nur den Job, das Geld zum Leben.

Die Nacht empfängt Maria mit lauter Musik, bunten Reklamen und Menschen in Partystimmung. Sie ist auch in Stimmung, in Jagdstimmung.

Langsam schlendert sie die Allee entlang. Rechts und links reihen sich Cafes, Nachtclubs, Restaurants, Tanzlokale und Kinos auf, wie bunte Steine, ein Stein immer farbenfroher als der andere.

Es ist Freitag, an einigen Clubs muss man anstehen, kommt man nur schwer an den Rausschmeißern vorbei. Sie hat damit nie Schwierigkeiten, kommt immer hinein. Ihr Augenaufschlag, der kirschrote Schmollmund und das enge Kleid mit dem raffinierten Dekolletee sind ihre Eintrittskarte.

Heute hat sie sich für einen kleinen, sehr exklusiven Club entschieden. Maria wählt immer neu, noch nie war sie irgendwo zweimal.

Sie schenkt dem Türsteher ein tiefgründiges Lächeln, und schon ist sie drin.

Ihre Blicke sondieren. Seit Jahren hat sich auf einen Typ festgelegt. Nicht mehr ganz jung, verheiratet, aber ohne Ehering. Sie findet diesen Typ immer.

Vor fast acht Jahren hat solch ein Mann ihre Schwester gefunden. Sie hatten schon immer den gleichen Geschmack, bei Zwillingsschwestern nicht gerade ungewöhnlich. Maike war sofort verliebt, Hals über Kopf und unsterblich. Dann war sie schwanger und noch glücklicher.

Später unglücklich und am Ende tot.

Maria hat ihn entdeckt. Er steht an der Bar. Vorsichtig schiebt sie sich durch die Menge und noch bevor sie die Bar erreicht hat, treffen sich ihre Blicke.

Sie halten sich nicht lange mit dem Vorgeplänkel auf.

Er fährt ein schnelles, sehr bequemes Auto. Als sie ihm vorschlägt an den Strand zu fahren, sagt er selbstverständlich nicht nein.

Leicht legt sie ihre Hand auf seinen Oberschenkel und lässt sie wandern. Erst zaghaft, dann immer fordernder. Sie spürt seine Erregung, sieht, wie sich die Hose im Schritt strafft und dies treibt ihren Puls hoch und höher. Sie hört sich lachen. Sie lacht für Maike.

Es dämmert schon als Maria mir seinem Auto zurückfährt. Ihr Puls ist wieder normal und das Herz schlägt ruhig. Auf dem Beifahrersitz liegt eine längliche Schachtel. Hin und wieder wirft sie eine prüfenden Blick darauf, doch sie ist dicht.

Ungesehen erreicht sie ihre Wohnung. Sie ist noch nicht müde und so geht sie unter die Dusche, lässt das warme Wasser sie liebkosen und die Erlebnisse der Nacht fortspülen.

Dann trägt sie wieder Mausgrau. Vor dem Spiegel dreht sie das Haar zu einem festen Knoten und steckt jede widerspenstige Strähne mit einer Nadel fest.

Sie drückt eine Kuss auf das Bild neben dem Spiegel, schlüpft in eine leichte Jacke und lässt die Tür wieder sanft ins Schloss fallen.

Auf ihrem Weg begegnen ihr die letzten Nachschwärmer, doch keiner hat einen Blick für die unscheinbare junge Frau übrig. Sie setzt sich auf eine Parkbank und wartet bis das kleine Blumengeschäft am Ende ihrer Straße öffnet.

Die Blumenfrau kennt sie und reicht ihr eine langstielige Rose über den Ladentisch. Wortlos bezahlt sie und lenkt dann ihre Schritte in Richtung Friedhof.

Bei Maike bleibt sie stehen.

Zärtlich streichelt sie über den mit Goldbuchstaben eingelassenen Namen und legt die Rose auf das gepflegte Grab. Leise, als könnte sie auf dem menschleeren Friedhof belauscht werden, sagt sie: “ Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag liebes Schwesterherz. Ich habe dir wieder dein Geschenk gebracht. Heute musste ich aber eine besonders lange Schachtel nehmen, und deshalb habe ich sie zur Feier des Tages mit weißem Schleierkraut ausgelegt"






Nach uns

zeitlos ist der Herbst

sie lässt sich nicht finden

liegt unter ersten Bodenfrösten

hörst du

dass ich sie suche

sicher nicht

bin zu leicht geworden

seit dem letzten November

hoffentlich drückt dich nicht der Stein

du wolltest keinen

doch denen im Glashaus ist er Beweis

dass ich dich liebte

auch die Herbstzeitlosen

die ich über dir pflanzte

und die sie nie pflegen

die Bank neben dir halte ich warm

dich wärmt das bunte Laub auf der Wiese

neben uns Eichhörnchen auf Vorratssuche

sie sind sehr spät dran

sollten sich beeilen

sonst holt sie die Kälte vor der Zeit

so wie dich

ein November hielt die Zeit an

seither folgt dem Herbst wie immer der Winter

doch dem Winter noch immer ein Herbst

geht die Sonne auf und wieder unter

spielt das Glück dazwischen mit mir Versteck

zerschellt Lebenslust an einem Stein

bereits sehr lange schon







Ausgespült

Es ist Blut. Und es schmeckt süß.

Erneut führe ich den Finger an meine Lippen. Noch kann ich nicht glauben, was ich fühle, was ich schmecke.

Schön, wie langsam es fließt. Es ist dick, fast wie Sirup. Warum ist mir das früher nie aufgefallen?

Bisher ist es nur eine winzige Fleck. Bewusst habe ich einen kleinen Schnitt gesetzt. So etwas braucht Zeit. Ich werde es völlig austreiben. Alles! Seine Berührungen, seinen Geruch, den Ekel, die Schmerzen und vor allem den gelebten Tod.

Jeder Tropfen, der die kleine Pfütze vergrößert, spült es aus. Ganz langsam. Für immer.

Ich bin ein wenig müde. Doch der Schlaf muss noch warten. Noch atme ich Erlebtes.

Seit heute Vormittag bin ich wieder daheim. Sie haben mich entlassen. Geheilt! Irgendwie stimmt es sogar, es gibt keine sichtbaren Wunden mehr. Nur zarte, rosa Linien berichten über das Vergangene. Mein Therapeut hat gesagt: “Die werden auch noch verblassen. Sie haben wieder eine Chance. Er wird Ihnen nichts mehr antun.”

Und wieder haben sie irgendwie recht: Sie haben ihn abgeholt.

Die Erinnerungen an diesen Tag sind verblasst. Doch in den Träumen fühle ich ihn wieder, den kalten Stahl in meiner Hand. Sehe, wie Blut durch das Zimmer spritzt. Dunkler als meines. Es schmeckt bitter auf meinen Lippen.

Er hatte Glück, gute Ärzte und noch bessere Anwälte. Was sind Monate gegen eine Kindheit, meine Kindheit!

Eine wohlige Kälte lässt mich erschaudern. Ich erkenne dieses Gefühl. Müde, aber glücklich schließe ich die Augen.

Jetzt habe ich wirklich meine Chance.




Alle Rechte bei Gabi Hegel


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