Herbst

Wo sind die Bleichen kalt

Im Deutschen Eichenwald

Da hängen Leichen bald



Liebesworte

Ich hocke mit heruntergelassener Hose auf dem Klo, höre ihre liebliche Stimme: „Wie geht es Dir, mein Schatz?“

Ich muß nicht, will nur meine Ruhe haben. Der einzige Ort in ihrer Wohnung, an dem ich ungestört denken kann, an dem ich einen Augenblick durchatmen kann.

„Hungrig?“

Flötentöne aus einem Kitschfilm, eine Oktave höher als eben noch. Ich schaue mir die beiden Zahnbürsten an, wie sie nebeneinander stehen, die Borsten sich fast zärtlich berühren.

„Mal sehen, was ich für dich habe!“

Mein Gott, sind die Wände dünn. Ich sehe sie direkt vor mir. Sie spitzt den Mund, ihr Gesicht wird zur Maske der Freundlichkeit. Quietsch! Sie öffnet die Tür der Speisekammer.

„Du bist doch mein Liebling!“

Ich stehe auf, schaue in den Spiegel. Meine Augen sehen traurig aus. Und wieder in einen anderen Spiegel schauen, denke ich mir, und wieder und immer wieder! Wird das kein Ende nehmen?

Ich nehme eine der beiden Zahnbürsten, befühle mit dem Daumen die Borsten, gehe aus dem Bad und stecke sie in die Innentasche meines Mantels, den ich mir überziehe.

„Komm zu mir, mein Dicker!“

Sie steht in der Küche, beugt sich über ihren Liebling, streichelt und liebkost ihn. Mir wird bei dem Anblick schlecht und ich räuspere mich. Da schaut sie zu mir auf.

„Wenn du nur einmal so mit mir reden würdest, wie mit deinem verdammten Meerschweinchen!“ sage ich, lege die Schlüssel ihrer Wohnung auf den Küchentisch und gehe, schließe hinter mir ganz leise die Tür.



Ich stehe etwas abseits . . .

Ich stehe etwas abseits vom Geschehen auf dem kleinen grünen Fleck inmitten der herbstlich grauen Stadt. Dies hier ist wohl die kleinste Parkanlage Berlins. Sie besteht aus acht Bäumen, ein paar Sträuchern, zwei Parkbänken und den dazugehörenden Papierkörben, in denen es sich lohnt herumzustöbern. Außerdem steht dort eine Tischtennisplatte, die jetzt mit bunten Laub bedeckt ist. Dazwischen die paar Quadratmeter Rasen, auf denen ich mich befinde. Nicht zu vergessen die kleine Skulptur aus Metall auf einem Steinsockel. Natürlich hat die Anlage auch einen Namen. Aber der ist nicht wichtig. Überall in der Stadt gibt es ähnliche Plätze.

Ich gehe etwas hin und her und verberge meine Enttäuschung. Ganz ohne meine Freunde werde ich von den Tauben nicht respektiert. Sie beachten mich nicht einmal. Sie beanspruchen den ganzen Reis für sich allein. In der Masse erscheinen sie mutig. Zwölf oder fünfzehn von diesen Geschöpfen hüpfen aufgeregt auf und ab. Sie schlagen mit den Flügeln, als müßten sie Zecken vertreiben. Zuvor hatte eine Frau das Futter einfach neben einem der Bäume auf den Rasen geworfen. Sie ging gebückt davon, ohne sich noch einmal umzuschauen. Fast täglich kommt sie mit ihrer abgenutzten Handtasche und kramt etwas aus ihr hervor. Nicht nur Reis, sondern auch Sonnenblumenkerne, Nüsse und Brot, welches manchmal schon leicht angeschimmelt ist.

Drei Spatzen nähern sich dem Geschehen. Es hätte mich auch gewundert, wenn diese allgegenwärtigen Stadtbewohner nicht aufgetaucht wären. Sie versuchen auch sich ihren Anteil zu holen. Die kleinen Biester sind flink und respektlos! Jede Unaufmerksamkeit nutzen sie aus. So werden die abseits liegenden Reiskörner ihre erste Beute. Schon geht eine Taube wütend auf die Spatzen los. Schnell springen die kleinen Vögel davon, lassen sich nicht vom Schnabel des größeren Vogels erwischen. Während die Tauben weiter den Reis aufpicken, warten die Spatzen auf die nächste Gelegenheit, sich dem Futter zu nähern.

Da kommt aus dem Gebüsch eine schlanke feldbraune Ratte! Ihr folgen weitere. Sie schnuppern in der Luft und laufen über den Weg auf die Wiese, hin zum Futter. Sieben Ratten zähle ich, etwas bewegt sich hier und dort im Busch. Es werden wohl noch mehr aus ihrem Bau gekrochen sein!

Die Tauben verlassen schnell mit ein paar Flügelschlägen die Futterstelle. Sie sammeln sich ein paar Meter weiter und scharren sich umeinander. Vier Ratten sind schnell herangekommen. Gierig stürzen sie sich auf die Reiskörner. Sie kauern nebeneinander am Rand des breit gestreuten Futters und stopfen sich ihre Mäuler voll.

Ganz vorsichtig kommen die am wenigsten feigen Tauben zurück und stellen sich an die andere Seite, picken ein Korn nach dem anderem auf. Sie lassen die Ratten dabei nicht aus dem Auge, während diese scheinbar von den Tauben keine Notiz nehmen.

Den drei Spatzen wurde die Konkurrenz zu groß. Sie flogen auf einen Ast und gucken sich nun aus sicherer Entfernung erst einmal an, was dort weiter passiert. Ein paar Ratten laufen am Weg hin und her. Ich weiß nicht, ob sie das Futter nicht wahrnehmen oder eine andere Aufgabe haben. Vielleicht sichern sie den Rückzug, warten bis ihre Freunde die Backentaschen im Bau leeren und bekommen dann ihren Anteil.

Ein junger Mann ist auf dem Gehweg stehengeblieben. Er schaut dem Geschehen am Futterplatz aufmerksam zu. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Die Fressenden lassen sich durch ihn und seine Neugier nicht stören. Er schaut zu mir, wie ich noch immer abseits stehe, und wie er, alles beobachte. Er guckt mich an, als würde er mich kennen, als würde er fragen wollen, warum ich nicht auch mir meinen Anteil hole. Vielleicht war er es, vor dessen Balkon ich mal eine brütende Taube aus ihrem Nest vertrieb, um mir dann ihr Ei zu holen. Oh, es hat gut geschmeckt. Ja, meine Federn sind rabenschwarz und ich bin mutig, schlau und gemein! Aber ich bin nicht so verfressen, daß ich mich wegen ein paar Reiskörnern mit diesem Getier dort streiten würde. Ich finde schon, was ich brauche. Ich bin nicht auf die Almosen einer alten Frau angewiesen!

Ein Fahrradfahrer nähert sich. Er fährt in Schlangenlinien auf dem Weg und schreckt so die Tauben auf. Sie verlassen hastig den Futterplatz! Auch die ach so mutigen Ratten fliehen. Sie verkriechen sich in dem Gebüsch, aus dem sie kamen. Irgendwo unter dem Laub werden die Eingänge ihrer weitverzweigten Höhlen sein.

Nur ich bin nicht geflohen, blieb einfach stehen. Der Fahrradfahrer ist fort. Ich gehe ganz gemütlich zum jetzt tierleeren Futterplatz, setze ein Bein ohne Eile vor das andere und picke mir ein Reiskorn aus der Mitte auf. Ich halte es mit der Spitze meines dunklen Schnabels und zeige dem neugierigen jungen Mann das weiße Reiskorn. Dann mache ich zwei Schritte, ein paar Flügelschläge und schon lande ich ganz oben auf dem Laternenmast. Der Mann schaut zu mir auf und geht dann seines Weges. Ich fliege hinauf zur Kirchturmspitze, setze mich auf meinen liebsten Aussichtspunkt, hoch über der Stadt. Freunde kommen herangeflogen. Der Herbstwind ist kalt und wir rücken näher zusammen und erzählen uns, was wir erlebt haben.


Alle Rechte bei Ralf Pfennig

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